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AUSSTELLUNG
ALTE FEUERWACHE

berlin friedrichshain

© Foto: Bernd Borchardt

23.02. 2019 – 07.04.2019
DER PURPURNE RAUM

Mirella Pietrzyk, Zeichnungen
Susanne Müller, Objekte und Skulpturen

Dr. Karin Rase

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, es freut mich sehr, Ihnen heute die Werke von Susanne Müller und Mirella Pietrzyk vorstellen zu dürfen.

Kerstin Ottersberg hat zwei Künstlerinnen zusammengeführt, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Susanne Müller schafft klare, geheimnisvoll–kultisch anmutende Objekte und Skulpturen, die wirken, als seien sie aus vergangenen Zeiten wiederaufgetaucht. Mirella Pietrzyk erfindet mit großer Lust ein eigenwilliges Universum fantastisch– bizarrer Figuren, das vertraut und doch fremd erscheint. Sie fragen sich vielleicht, was es mit dem poetischen Titel der Ausstellung auf sich hat. Kurz gesagt, „Der purpurne Raum“ ist als Metapher zu verstehen und beschreibt im weitesten Sinne eine Utopie: Es entsteht ein Raum, der zwischen Traum und Realität, Vergangenheit und Zukunft liegt. Hier treffen sich Susanne Müller und Mirella Pietrzyk.

Ich möchte Ihnen nun einige Sehhilfen geben und mich zunächst den Werken von Susanne Müller zuwenden und Ihren Blick exemplarisch auf diese Nische mit dem Dreiklang („Aus drei Ringen“ 13–15) einer lehnenden, einer stehenden und einer hängenden Skulptur lenken. In der Mitte sehen Sie ein feingliederiges Gebilde, das sowohl an ein Gefäß – bzw. Gestell für ein Gefäß – als auch an einen Stuhl oder sogar an einen Thron erinnert. Der Eindruck wird durch die filigrane Architektur des Gebildes mit den hoch aufragenden, schlanken Elementen noch verstärkt. Ungewöhnlich ist, dass es auf drei Füßen steht. Dreifüße sind in nahezu allen Zeiten und Kulturen zu finden. Am bekanntesten wurde der Dreifuß jedoch in seiner Funktion als Sitz der Orakelpriesterin Pythia in Delphi. Dieser Sitz soll sich über einer Erdspalte befunden haben, aus der, der Überlieferung nach, Dämpfe emporstiegen, die die Orakelpriesterin in einen Trancezustand versetzten. Auch das hängende Artefakt, das verschiedene Öffnungen und ein ornamentales Dekor aus Kreisen und einer Raute zeigt, zieht uns in die Vergangenheit. Susanne Müller begeistert sich nämlich für chinesische Ritualbronzen, für die ein spezifisches Dekor typisch war und findet auch dort ihre Impulse: In der Frontalansicht assoziiert das Objekt eine Maske oder einen Helm, steht man dahinter, ist man versucht, das Gesicht hineinlegen zu wollen. Die sehr filigrane lehnende Skulptur des Trios „Aus drei Ringen“, die auch stehen kann, zeigt ebenfalls weiche Formen und Öffnungen, eine feine Ästhetik, gerade auch in Bezug auf ihre Materialität und Oberflächenbehandlung, was übrigens auf alle Werke zutrifft. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass die Arbeiten der Bildhauerin zumeist eine andere Materialbeschaffenheit haben, als man glaubt. Das, was aussieht wie polierter Stein oder aber wie Metall und fast alles, was Sie hier aus dem Universum der Susanne Müller sehen, besteht im Wesentlichen aus Pappmaschee. Sie bearbeitet dieses formbare Material (aus geschreddertem „püriertem“ Papier mit Bindemittel) so lange und versieht es mit entsprechender Patina bzw. Farbe, so dass eben dieser “als—ob— Eindruck“ entsteht. Die Künstlerin hat diese Werke in einen Dreiklang gebracht, weil sie eine entscheidende formale Gemeinsamkeit aufweisen: Jedes Objekt ist ausgehend von einer Kreis- bzw. Ringform aufgebaut, oder anders gesagt, sie hat ein vorhandenes kreisförmiges Objekt horizontal in Scheiben geschnitten und diese hier verbaut. Susanne Müllers Werke basieren grundsätzlich auf geometrischen Grundformen – wie Kreise, Dreiecke und Rauten – was ihrer Liebe zur Einfachheit, Klarheit und Harmonie entgegenkommt. Die Künstlerin ist eine Suchende, und sie ist leise, was heutzutage so ungewöhnlich wie mutig ist. Unbeirrt wie eine Archäologin oder Ethnologin ist sie der Vielfalt von menschlichen Gesellschaften und Kulturen auf der Spur. Ihre Werke wirken zwar wie „echte“ Relikte vergangener Zeiten, doch sind es im Gegenteil Neuschöpfungen. Susanne Müller entwickelt mit ihrem Material und ihren Dekoren in zeitintensiven Prozessen eigenwillige kraftvolle und magische Zeichen, die Sie für diese Ausstellung teilweise auch von der Decke abgehängt hat. Ihre eigene magische Sprache drückt sich auch in einem Wesen „Zwei Schalen“ (Nr. 5) aus, für mich erscheint es wie ein großer Kopf, der zugleich Leib ist und von Beinen, die wie Leitern aussehen, getragen wird… es könnte aber genauso gut ein Gefäß mit Öffnungen auf einem Gestell sein, was der Titel andeutet. Wie die Künstlerin erzählte, stammt dieser jedoch noch aus einer Phase, in der dem Ganzen die Beine fehlten. Darüber hinaus sehen Sie hockerartige, kreatürlich anmutenden Geschöpfe wie zum Beispiel „Das Igelhaus“ (Nr. 1).

Nun möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die großartigen Zeichnungen, auf das Theatrum Mundi von Mirella Pietrzyk lenken. Dass Mirella Pietrzyks Universum von surrealen Figuren und Kreaturen lebt, fällt sofort ins Auge. Schauen Sie sich die Zeichnung an, die Sie von der Einladung kennen (Nr. 8). Eine zierliche weibliche Gestalt mit opulentem Kopfschmuck, halb Mensch halb Tier, wird darin zur Hauptfigur. Solche pompösen für die Trägerinnen viel zu großen Frisuren oder aufwendigen Hüte, vor allem in Adelskreisen beliebt, waren z. B. typisch für das 18. Jahrhundert. Der Kopfschmuck dreht sich wie ein gepolsterter Reifrock in den Himmel und wird noch durch ein Schmuckelement, das an ein Tischdeckchen erinnert, verziert. Die Künstlerin hat diese Figur aus unzähligen sich übereinander lagernden, ineinander verflochtenen, schlaufenartigen Strukturen gezeichnet… der Unterleib erinnert in seiner Fischform an das Fabelwesen der Meerjungfrau. Diese rätselhafte Gestalt wendet sich einer Frau mit Badeanzug und Taucherbrille zu. Beide scheinen in einer Unterwasserwelt mit feinen Gräsern und Blüten zu schweben, ganz im Unterschied zu den Protagonisten rechts im Bild, die entweder stehen oder sitzen. Das Personal wirkt insgesamt so, als sei es nicht von dieser Welt. Es wäre aber auch vorstellbar, dass die alptraumhaften Gestalten, die an Nähmaschinen sitzen, die beiden schwebenden Figuren im Bild kreieren, ja buchstäblich nähen — oder aber reproduzieren sie sich variantenreich selbst? Mit ihren schuppenartigen Körpern und seltsamen Augen, die an Facettenaugen erinnern oder an Blumensamen und den langen Hälsen wirken die Näherinnen wie Botschafter einer ferner Galaxie, ebenso wie das janusköpfige Wesen dahinter und die elegant gekleidete Dame mit üppiger Frisur.  Mirella Pietrzyk thematisiert in ihrer fantastischen Welt ganz nebenbei wichtige gesellschaftliche Fragen: Es geht zum Beispiel um die Rolle der Frau, die, nicht nur wie in dieser Zeichnung, mit den Attributen „Nadel und Faden“ versehen wird. In der großen Zeichnung (Nr. 7) sehen Sie ein barbrüstiges Frauenpaar, die Frau ohne Gesicht betrachtet sich im Spiegel. Dazu fällt einem vieles ein, die aktuellen Diskussionen um Verschleierung, ein Film wie „Der Mann ohne Gesicht“ oder auch Metaphern wie „Gesicht zeigen“ oder „sein wahres Gesicht zeigen“. Der stilisierte Spiegel ist ursprünglich das Symbol für die Liebesgöttin Venus und ist auch in der Astronomie das Symbol für den Planeten Venus. Wie zwei ungleiche Schwestern machen sich die Damen ausgehfein. Sie tragen offenherzige Dekolletés, schwingende Kleider und spitze hohe Schuhe… Wie man sieht, scheut Mirella Pietrzyk auch vor karikaturhaften Darstellungen und Klischees nicht zurück. Darüber hinaus wirft sie Fragen nach der Reproduktionstechnologie und auch der eigenen künstlerischen Kreativität auf. Diese surreale Zeichnung bildete für Mirella Pietrzyk die Basis ihrer neuen Reihe großformatiger Blätter, die sie wie alle ihre Arbeiten nicht betitelt, sondern schlicht nur nummeriert. In einem anderen Blatt (Nr. 6) stellt sie das Paar (Frau mit Badeanzug und Frau mit üppigem Kopfschmuck) in einer anderen Variante vor: Hier fehlen farbige Gestaltung und vor allem eine Verortung. Hintergrund bildet das weiße Blatt – das Mischwesen hat nun Beine bekommen und steckt in einem enganliegenden Ganzkörperanzug, wie man ihn aus Fantasyfilmen und aus der Mode kennt. Der Körper der Frau im Overall ist wieder sehr zart, die Finger der Figuren sind, wie auch schon in der Ausgangszeichnung, sehr filigran und höchst manieriert. Es findet zwar eine Hinwendung zwischen den Figuren statt, sie berühren sich aber nicht, sondern sie sind nur durch einen feinen Faden miteinander verbunden. In beiden Zeichnungen spielt der Faden eine Rolle: Es ist ein bemerkenswert hauchdünner Faden, aus dem Mirella Pietrzyk ihre Fantasien spinnt. Die Frau im Badeanzug scheint damit zu nähen, doch sie berührt das neben ihr befindliche Gewebe gar nicht mit ihrer großen Nadel, zudem scheint der Faden sich vom Overall der anderen zu lösen und schafft ein zartes Band zwischen den Figuren. Vielleicht ist der Faden aber auch der sagenumwobene Ariadnefaden der griechischen Mythologie: Theseus betrat mit dem Faden, der ein Geschenk der Prinzessin Ariadne war, das Labyrinth, in dem der Minotaurus eingesperrt war. Er rollte ihn beim Betreten des Labyrinths ab, und der Faden führte ihn, nachdem er den Minotaurus getötet hatte, sicher zurück. Mirella Pietrzyk schafft mit wenigen zeichnerischen Mitteln wie zum Beispiel Kugelschreiber, Fineliner, Tusche, Kohle und Acrylfarbe, manchmal auch mit Nagellack und Lippenstift, opulente surreal-rätselhafte Momentaufnahmen, die zwischen Imagination und Realität pendeln. Janusköpfige Wesen mit Plateauschuhen, durch schlauchartige Strukturen in ihren Nasen verbunden, erscheinen wie Außerirdische. Oder stecken gar Menschen wie Du und ich in aufwendigen Kostümen? Bei anderen Gestalten handelt es sich vielleicht um Gottheiten, so wie die weibliche Gestalt in der Nische ganz links (Nr. 2), sie gebiert durch ihren Atem, der durch ihre Nase fließt ein zauberhaftes Wesen, dessen Gesicht uns anzublicken scheint. Oder schaut es nach innen?  All diese Bilder und Geschichten von Mirella Pietrzyk, die aus der Zukunft kommen, wie auch die Objekte und Skulpturen von Susanne Müller, die aus der Vergangenheit kommen, sind im „Purpurnen Raum“ gestrandet, entwickeln plötzlich Beziehungen zu einander, z. B. über filigrane Strukturen und fantastischen Elementen, durch Raum und Zeit, verbinden sich, stoßen sich ab, kommentieren sich oder ziehen sich auf sich selbst zurück und schaffen doch einen gemeinsamen Resonanzraum.

Die beiden Künstlerinnen bieten uns in dieser Ausstellung ihre Utopien an, Utopien die uns im Alltag oft fehlen. „Der purpurne Raum“ mit all seinen Artefakten, Anspielungen und Assoziationen lädt uns zu einer persönlichen Entdeckungsreise ein, und dieses Angebot sollten wir jetzt intensiv annehmen.